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Erfurter Herbstlese
Es lebe die Erfurter Herbstlese!
Nov. 04 2019

Der lesesüchtige Thomas Thieme stellt seine Lieblingsbücher vor

„Ich habe eine Haltung!“

Einer wie Huck Finn habe er sein wollen, kein Tom Sawyer, gesteht Thomas Thieme. (Foto: Viadata)
Einer wie Huck Finn habe er sein wollen, kein Tom Sawyer, gesteht Thomas Thieme. (Foto: Viadata)

Von Sigurd Schwager

Immer wieder sonntags lädt die Herbstlese in das Kultur: Haus Dacheröden zu ihrer schönen kleinen Reihe „Mein Lieblingsbuch“. Selbiges stellen dort im munteren Wechsel kaum bekannte, bekannte oder sehr bekannte Menschen vor. Und es offenbart sich dabei immer wieder: Sage mir, was du liest, was zu lesen du liebst, und ich sage dir, wer du bist.

Diesmal, am ersten Novembersonntag 2019 kommt, um mit Pep Guardiola zu sprechen, ein Top-top-top-Schauspieler und Top-top-top-Fußballfan aus Weimar: Thomas Thieme, vor wenigen Tagen 71 geworden Der Saal ist voll, ausverkauft, die Stimmung gut, der Begrüßungsbeifall laut und lang. Befragt zu seiner Leselust wird Thüringens bekanntester Mime von Frank Quilitzsch, einem Mann, der ihn ziemlich gut kennt, ihn gefühlt schon tausendmal interviewt hat, was man in Zeitungen und Büchern nachlesen kann. N

ach einem kurzen heiteren Geplänkel, bei dem es um den berühmten Fußball-Intellektuellen Hans Meyer geht, nähert sich der Kulturredakteur und Autor Quilitzsch auf einem kleinen Umweg dem Thema. Was für ein Buch gerade bei Thieme auf dem Nachttisch liege, möchte er wissen. „Eines von Thomas Pynchon“ antwortet der Schauspieler und fragt in den Raum, ob denn außer ihm noch jemand diesen Mann kenne. Da sich niemand meldet, zeigt Thieme auf den dezent nickenden Berichterstatter, der in der ersten Reihe sitzt - und vor 60 Jahren mit Thomas in einem Klassenzimmer der Weimarer Goetheschule saß.

„Was für eine tolle Klasse - zwei, die Pynchon kennen!“ freut sich Thieme. „Aber“, fährt er fort und seine Augen blitzen vergnügt, „ich verstehe nichts von dem Buch. Ich empfehle es niemanden.“ Natürlich weiß er – und wird es später auch erzählen –, wie Elfriede Jelinek 2004 auf die Preis-Kunde aus Stockholm reagiert: „Ich kann doch den Nobelpreis nicht kriegen, wenn Pynchon ihn nicht hat!“ Ein Witz sei das und gegen die Naturgesetze.

Auch beim Berichterstatter kommt Thiemes Nicht-Buchempfehlung wie gewollt an. Noch am selben Abend stöbert er im Regal, findet dort Pynchons Roman „Die Versteigerung von No. 49“, veröffentlicht 1985 im DDR-Verlag Volk und Welt, und liest im Nachwort: Dieser anspruchsvolle Schriftsteller erfordere die aktive, geduldige und intelligente Mitarbeit des Lesers. Stets gäben Pynchons Bücher Rätsel auf, vermittelten aber auch ein intellektuelles Vergnügen, welches das Mitspielen lohnenswert mache. Vor allem deshalb, weil es zu kritischem Nachdenken herausfordere. Sätze, geschrieben 1984, also zu genau jener Zeit, in der Thomas Thieme die miefige DDR gen Westen verlässt, in Frankfurt am Main aufschlägt und einer durchaus ungewissen Zukunft entgegensieht.

Doch zurück in den Erfurter November 2019. Wie der Thieme-Prolog mit Pynchon so die drei folgenden Thieme-Akte. Denn es sind drei Lieblingsbücher, die er ausgewählt hat, seine Jugend, die Mitte des Lebens und das beginnende Alter betreffend: Mark Twains „Die Abenteuer des Huckleberry Finn“ von 1884 sowie zwei echte Wälzer von jeweils mehr als 1000 Seiten: Fjodor Dostojewskis „Die Brüder Karamasow“ aus dem Jahr 1880 und die „Die Ästhetik des Widerstands“ von Peter Weiss, erschienen zwischen 1975 und 1981.

Los geht es mit Twain und Huck Finn. Ein Jugendbuch-Bestseller? Der belesene Thieme zitiert Ernest Hemingway: Die ganze amerikanische Literatur komme von einem Buch von Mark Twain her, das „Huckleberry Finn“ heiße. „Es ist das beste Buch, das wir gehabt haben. Vorher gab‘s nichts. Danach hat es nichts gleich Gutes gegeben.“

Huck Finn, so Thieme, habe seine Kindheit in Weimar geprägt. Dieser Rüpel am Ufer des Mississippi sei am weitesten weg und am dichtesten dran gewesen an seinem Leben.  Einer wie Huck habe er sein wollen, kein Tom Sawyer. „Tom Saywer, das waren wir.“ Huck Finn geht ihm nie verloren. Im vergangenen Jahr, zu seinem 70. Geburtstag, trifft Thieme ihn erneut, durchlebt lesend im Radio noch einmal dessen Abenteuer, nimmt die gebannte Zuhörerschaft mit auf eine Reise in die Welt der Kindheit und Jugend.

In Erfurt wechselt Thieme, vom Frager Quilitzsch sanft dirigiert, in die Mitte seines Lebens und zu Dostojewskis Brüdern Karamasow. Thieme feiert dieses Buch und seinen Autor hymnisch, spricht von der unfassbaren Größe des Russen. Damit steht er nicht allein. Für Sigmund Freud zum Beispiel ist es der großartigste Roman, der je geschrieben wurde. Eine monumentale Familienchronik, bei der man in die Abgründe der menschlichen Seele schaut.

Es sei der unglaubliche Entwurf eines hochsensiblen einzigartigen Künstlers, den er, sagt Thieme, auf eine Ebene mit Shakespeare stellt. Dessen unvergängliche Figuren hat der Schauspieler auf den großen deutschsprachigen Bühnen verkörpert, und auch manche Gestalt aus dem Romankosmos von Dostojewski. Im Erfurter Sonntags-Buchgespräch wird daran erinnert und auf die Gegenwart geblickt. Dostojewski, sagt Thieme, habe unter gotterbärmlichen Umständen Großartiges geschrieben. „Er war auf der Seite der armen Leute. Heute stehen viel zu wenige auf der Seite dieser armen Leute." Das Publikum bekräftigt die Worte mit Zwischenbeifall und begleitet auch zustimmend die Einschätzung, dass heute irgendetwas wanke, die Gesellschaft in einen Kollaps taumele. Er glaube, sagt Thieme, wenn sich die Welt wirklich verbessern solle, dann müsse die kapitalistische Ordnung beseitigt werden.

Es folgt der dritte Akt. Er gilt dem Lieblingsbuch „Ästhetik des Widerstands“ von Peter Weiss, dem vielschichtigen Panorama der europäischen Arbeiterbewegung zwischen 1917 und 1945, das zugleich eine Geschichte der Kunst ist. Zwei Jahre habe er für das Lesen gebraucht, berichtet Thieme. Es sei wie das Besteigen eines hochinteressanten Gebirges gewesen. Weiss bringe die Gedanken von Klassenkampf und Ästhetik zusammen.

Wie bei den zwei anderen Büchern hat der Schauspieler auch diesem Werk eigene künstlerische Anstrengungen gewidmet. Frank Quilitzsch erinnert an das Kunstfest Weimar 2016, als Thieme, unterstützt von seinem Sohn, aus dem Weiss-Opus Magnum im Eiskeller der einstigen Stadtbrauerei und im Ehringsdorfer Steinbruch vorträgt. Das zahlreich erschienene Publikum erlebte kraftvolle Kunst. Zeitblöcke wie aus dem Stein gehauen im realen Steinbruch - eine starke Symbolik. Ein Rezensent notierte damals: „Thieme ist sichtbar berührt von Peter Weiss‘ Text, der die gleichen Fragen aufwirft, mit denen er selbst kämpft, den Zweifel, ob Kunst etwas bewirken soll, kann, muss – und wenn ja: wie?"

Der kluge Büchernachmittag hat Fußballspiellänge mit üppiger Nachspielzeit und ist zu keiner Sekunde langatmig – trotz oder vielleicht gerade wegen der dargebotenen Gedankentiefe und Gedankenschwere. Thieme führt Finn und Faust zusammen, vergleicht Goethe mit Dostojewski, der ihm sinnlicher scheint, macht dem einst im Hause Dacheröden anwesenden Herrn Goethe eine Liebeserklärung und findet über Peter Weiss` nachdenkende Arbeiter vor dem Pergamonaltar zum aktuellen Weltenlauf.

Dass auch häufig gelacht werden darf und wird, versteht sich. Einer wie Thieme beherrscht in Mimik, Gestik und Worten traumhaft sicher die Balance zwischen Ernst und Heiterkeit, zwischen Liebe und Zorn. Man sieht und spürt es: Wo er ist, da ist die Bühne. Lesen um zu spielen. Spielen um zu lesen.

Zum Ende hin sagt  der lesesüchtige Schauspieler einen knappen Satz, der es auf den Punkt bringt: „Ich habe eine Haltung!“

Das Sonntags-Publikum dankt mit herzlichem Applaus, der den souverän agierenden Frank Quilitzsch einschließt. Und es freut sich auf ein baldiges Wiedersehen mit Thomas Thieme: Schon am Montag im ZDF zur besten Sendezeit - als DDR-Devisenbeschaffer Alexander Schalck-Golodkowski.

PS: Zurück auf dem Tisch bleibt unangerührt ein viertes Buch: „Transit“ von Anna Seghers. Nicht Thieme, Quilitzsch hatte es mitgebracht. Für den Fall der Fälle, dass noch Zeit gewesen wäre. War aber nicht. Vielleicht sieht man sich ja irgendwann wieder, wenn Herr Q. sein Lieblingsbuch präsentiert. Auch das wird bestimmt interessant.

Thomas Thiemes Lieblingsbücher

Fotos: Viadata

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