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Erfurter Herbstlese
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Nov. 03 2019

Lucas Vogelsang, Joachim Krol und „Deutsche Grenzerfahrungen“

„Was wollen die denn hier?“

Kennen sich seit zehn Jahren: Der Journalist Lucas Vogelsang und der Schauspieler Joachim Krol. (Foto: Viadata)
Kennen sich seit zehn Jahren: Der Journalist Lucas Vogelsang und der Schauspieler Joachim Krol. (Foto: Viadata)

Von Sigurd Schwager

Natürlich kann man den Schauspieler Joachim Krol, seit vielen Jahren einer der vorzüglichsten im Lande, nicht auf einen bestimmten Rollentyp festlegen. Und doch fällt einem sogleich der Name Krol ein, wenn die Rede geht von Roadmovies mit deutscher Beteiligung. Seit 1993, seit „Wir können auch anders“, ist das so.

Den preisgekrönten Film hieven viel später Juroren auf Platz eins der Top 10 hiesiger Roadmovies, gewissermaßen als das deutscheste aller deutschen Roadmovies. Rang fünf belegt „Zugvögel ... einmal nach Inari“ von 1997. Hauptrolle auch hier Joachim Krol. Jahre nach diesem Finnland-Trip zieht es den Schauspieler in den fernen Osten. „Ausgerechnet Sibirien“ gelangt 2012 in die Kinos.

In jüngster Zeit ist Joachim Krol wieder gereist, von Bochum nach Boltenhagen, doch diesmal nicht als begnadeter Mime, sondern als stiller Beobachter, neugieriger Befrager und aufmerksamer Zuhörer. Jetzt gibt es das Buch zur Reise.

Dass er damit auch die Erfurter Herbstlese besucht, erfreut das Publikum sichtlich, das die 400 Stühle im Atrium der Stadtwerke bis auf den letzten Platz füllt. Krol, der Sympathieträger, kommt nicht allein. Neben ihm auf dem Podium sitzt der Journalist Lucas Vogelsang. Die beiden kennen sich seit zehn Jahren, und seither treibt sie die Idee um, auf den Spuren von „Wir können auch anders“ noch einmal an die Drehorte vor allem im Osten Deutschlands zu reisen. Mit klarer Rollenverteilung: Der Schauspieler wird zum Reporter, und der eigentliche Reporter beobachtet ihn dabei, schreibt das Gesehene und Gehörte auf.

Jahre vergehen, bis der Plan endlich Wirklichkeit werden kann. Mag sein, dass das Nahen des Wende-Jubiläums das Tempo beschleunigt. Pünktlich zum 30-jährigen Mauerfall liegt das Buch mit der schönen Titelfrage „Was wollen die denn hier?“ und der Unterzeile „Deutsche Grenzerfahrungen“ vor.

Zwei Autoren, zwei Generationen: Der eine, geboren in Herne, ist vier Jahre alt als die Mauer errichtet wird; der andere, geboren in Westberlin, ist vier als die Mauer fällt. Die Stimmung in Erfurt ist gut, locker und gelöst, es gibt kein Eis, das zu brechen wäre. Vogelsang klagt lächelnd, dass er jetzt nicht ungern in Berlin wäre, schließlich sei er Hertha-Fan. In dem Moment, wo er das sagt, ist seine Mannschaft im Bundesliga-Abendspiel gerade dabei, gegen Union zu verlieren. In wenigen Minuten wird das entscheidende Tor fallen. Krol, der bekennende BVB-Fan, schmunzelt still. Er weiß längst, dass seine Dortmunder am Nachmittag gewonnen haben; 3:0.

Erfurt, kündigt Vogelsang augenzwinkernd im Atrium an, werde Weltpremieren erleben, denn die beiden Herren läsen Passagen aus ihrem Buch, die sie noch nie in der Öffentlichkeit vorgetragen hätten. Sie beginnen nicht, wie es bei den meisten Lesungen üblich ist, mit dem ersten Kapitel. Statt „Tief im Westen“ startet die Erfurter Vorlesepartie auf Seite 103 mit „Linienbestätigt“ in Marienborn, wo sich heute die „Gedenkstätte Deutsche Teilung“ befindet.

Hier wartet auf die beiden Zeitreisenden Peter Grüschow, 52, ein ehemaliger Grenzer. Ein Mitläufer damals, der kein Parteibuch und viel Westverwandtschaft hatte. Die Zuhörer lauschen Sätzen wie diesen: „Die Grenze, sagt er jetzt, war für uns Kinder Normalität. Wir waren nicht sonderlich indoktriniert. Aber das war der antifaschistische Schutzwall, klar.“ Oder: „Ditt“, sagt er, ein Stoßseufzer mehr als ein Satz, war alles ziemlich pervers... Pervers. Es ist sein Wort für die Grenze... Seine persönliche Linie. Dort der Irrsinn der DDR, hier er selbst, der Soldat, der für diesen Irrsinn im Turm stand, das Gewehr an der Schulter.“

Schon nach wenigen Leseminuten ist die Tonlage des Buches klar erkennbar. Da wird weder geeifert noch beschönigt, sondern Menschen, ihren Geschichten und Meinungen, Freuden und Nöten Raum gegeben. Zum Beispiel an der Raststätte Michendorf, wo der zweite Lesetext spielt. Hier hat Cornelia Wirth, die Kellnerin und später Leiterin war, als Mädchen begonnen und als Großmutter abgeschlossen. „Nun begrüßt sie uns herzlich, schaut Joachim über die Schulter. Wieso, fragt sie also, bist du nicht mit dem Krause hier. Den hättste ruhig mitbringen können, den gucken wir immer gern. Letztens wieder im Fernsehen. Oder kommt der noch mit dem Mofa um die Ecke?"

Joachim Krol und Horst Krause, die Filmbrüder aus „Wir können auch anders“ von 1993 – zwischen den beiden Schauspielern verläuft nach wie vor eine Grenze, im Wohnzimmer mit den Sehgewohnheiten gezogen. Eben diese Szene, diese kleine Grenzerfahrung, nennen die Autoren, wenn sie in Interviews gefragt werden, ob es für sie einen Moment gebe, in dem sich die Essenz der ganzen Reise verdichte.

In Erfurt führt die Lesung weiter nach Potsdam zu Rainer Bretschneider, einem Westimport aus Hagen, Staatssekretär in Brandenburg, Aufsichtsrat der Jahrhundertbaustelle BER. Bretschneider erzählt, wie er 1990 kurz vor Weihnachten in Rangsdorf der gesamten Autobahnmeisterei kündigte. „In dem Raum damals schlug ihm Wut ins Gesicht. Die schlimmste Bescherung.“ Zwei Wochen später aber fängt es an zu schneien. „Und damit hatte wohl niemand gerechnet. Als hätte es den Winter in der DDR nie gegeben. Denn plötzlich war da niemand mehr, der die Straßen räumen konnte. Der Schnee, sagt er, war die Rettung. Am Tag danach wurden die Leute wieder eingestellt.“

Nächster Haltepunkt ist in Burgwall das Gasthaus zur Fähre. Dort wartet Siegbert Tartsch, die Kartoffeln stehen bereits auf dem Herd. „In der DDR“, sagt der Kneiper, „hat man den Menschen das Gefühl gegeben, dass sie gebraucht werden. Auch wenn sie nur die Kartoffeln von links nach rechts geschippt haben.“ Noch viel weiter oben im Osten, in Boltenhagen, wird der Fremdenführer Joachim Clausen, bei dem die Reise endet, seine Sicht der Dinge so zusammenfassen: „In der DDR ... war nicht alles schlecht. Es war nur schlecht, dass wir sie hatten.“

Ein Satz, für den allein schon das Buch sein Geld wert ist. Dass die versammelten Geschichten kombiniert werden mit Transit-Erinnerungen vom jungen Joachim Krol, dem Hippie aus Herne, gereicht dem Lesevergnügen nicht zum Nachteil. Im Gegenteil. Da kann man auch verschmerzen, dass Chronist Vogelsang einen gewissen Hang zu Schnörkeln hat sowie nicht immer der Kraft der Geschichten vertraut und überflüssige Erklärungen bemüht.

Das Herbstlese-Publikum dankt Lucas Vogelsang und Joachim Krol für den interessanten Abend und das interessante Buch mit langem Beifall.

„Was wollen die denn hier?“ Von wegen: Gut, dass die hier sind!

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