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März 25 2017

Alfred Grosser und die Ethik der Identitäten: Ein Abend mit dem französischen Kulturbüro

Pessimistische Zuversicht

Vor wenigen Wochen erst ist der hellwache Alfred Grosser 92 Jahre alt geworden.
Vor wenigen Wochen erst ist der hellwache Alfred Grosser 92 Jahre alt geworden.

Von Sigurd Schwager

Alfred Grosser, der Politik- und Menschenversteher, der Erklärer und Aufklärer, der Europäer aus Paris, ist ein gern gesehener Gast in Thüringen. Begegnungen mit ihm, ob im Erfurter Barocksaal, auf der Wartburg, im Schloss Ettersburg oder anderswo, sind immer ein intellektuelles Vergnügen.

Ein solches erlebt man auch jetzt wieder, da er zur Frühlingslese in der Aula des Erfurter Ratsgymnasiums das zahlreich erschienene Publikum in den Bann seiner Gedankenwelt zieht. Zwei kurzweilige Stunden lang. Der Beifall am Ende bekundet, dass es ganz und gar unmöglich scheint, von diesem unabhängigen Geist nicht beeindruckt sein, von seiner ebenso eleganten wie scharfen Wachheit bis ins hohe Alter.

92 ist er vor ein paar Wochen geworden.  Menschen mit langlebiger öffentlicher Meinungsfreude sind rar in unserer rasenden Zeit. Es waren die meisten seiner Erfurter Zuhörer ja noch nicht einmal geboren, als der junge Politikprofessor Alfred Grosser vor mehr als 60 Jahren bereits in Werner Höfers Frühschoppen disputierte.

Wer zählt die medialen Auftritte und Bücher, wer die angesehenen Preise. Einen Moralpädagogen, den finstere Zeiten nicht schrecken, weil er dem Licht der Vernunft vertraut, so hat ihn hymnisch eine große Zeitung beschrieben, die in seiner Geburtsstadt am Main erscheint. Aus eben jenem Frankfurt flohen Im Dezember 1933 seine Eltern mit dem Achtjährigen und seiner Schwester nach Frankreich. Zuvor hatte der Vater als Jude die Leitung des Kinderhospitals sowie seine Professur für Kinderheilkunde an der Universität verloren.

Alfred Grosser erzählt davon in der Einleitung zu seinem neuen Buch „Le Mensch. Die Ethik der Identitäten“, über das er in Erfurt mit Martin Borowsky, einem Richter und Frankreich-Kenner, spricht.

Natürlich weiß jeder im Saal, dass Alfred Grosser enorm viel getan hat, um Frankreich den Deutschen und Deutschland den Franzosen näherzubringen. Aber es ärgert ihn ziemlich, lesen wir im Buch und hören wir von ihm in Erfurt, wenn man ihn einen Deutsch-Franzosen nennt: „Ich hasse das.“ Er sei seit 1937 Franzose und Frankreich sein Vaterland. Er habe das Glück, als Außenseiter innerhalb zweier Gemeinschaften mitstreiten zu dürfen, denen er nicht angehöre: als Franzose in Deutschland und als Atheist im französischen Katholizismus.

„Jeder von uns hat viele Identitäten, und sei es nur, weil er mehrere gesellschaftliche Zugehörigkeiten besitzt.“ Mit diesem Satz beginnt das Buch, das dann Begegnungen, Erfahrungen und Einsichten zum Thema in Fülle ausbreitet. Zur eigenen Identitätszuschreibung zitiert er zustimmend einen Journalisten, der ihn „jüdisch geborener, mit dem Christentum geistig verbundener Atheist“ nennt.

Wenn er alle seine Identitäten in einer einzigen zusammenfassen müsste, so der alte Grosser, dann stünde das im Kern, was der junge Grosser mit 21 Jahren in sein Tagebuch schrieb: „Ich werde nie ein demagogischer Redner sein. Ich werde mich nie an die Instinkte der Zuhörerschaft wenden. Nur an ihre Vernunft und an ihren Sinn für Ethik.“

74 Jahre später denkt Grosser bilanzierend nach über das "Menschwerden inmitten der Verzweiflung am Weltgeschehen". Aber damit endet sein Buch nicht. Es kommt noch ein: Aber es lohnt sich doch! „Denn die Menschgewordenen werden an dieser Welt vielleicht einiges mehr ändern als ich. Mein berechtigter Pessimismus ist also verbunden mit einer ebenso berechtigten Zuversicht.“ Nicht abseitsstehen, mehr Mensch werden, mehr Mensch sein, das ist ihm wichtig.

Es zeichnet den Erfurter Abend aus, dass er viel Zeit lässt für Fragen an Alfred Grosser. Das Publikum, darunter offensichtlich viele Lehrer, nutzt das weidlich und klug, Widerspruch inklusive. Es geht um die schwarze Seite der Vergangenheit, die vertrackte Gegenwart und Zukunftsvisionen, um Europas Identität und um das Verständnis für das Leiden der anderen, um Staat und Religion, um Bildungsgerechtigkeit.

Man erfährt auch und nicht nur nebenbei, wen Alfred Grosser mag (Merkel, Schulz, Macron) und wen nicht (Schröder, Seehofer, Höcke, Sarkozy). Natürlich auch nicht: Marie Le Pen, für ihn chancenlos in der Präsidenten-Stichwahl, und Donald Trump, dessen Amtsenthebung er nicht für ausgeschlossen hält.

Nach Trump ist Schluss. Ein interessanter Abend voll pessimistischer Zuversicht.

Alfred Grosser im Ratsgymnasium

Fotos: Holger John

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