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Erfurter Herbstlese
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Nov. 06 2018

Pause für Detektiv Simon Brenner: Wolf Haas stellt seinen neuen Roman „Junger Mann“ vor

Rückwärts durch die Knie betrachtet

Wolf Haas lädt sein Publikum dazu ein, ein Schülerleben aus den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts zu besichtigen.
Wolf Haas lädt sein Publikum dazu ein, ein Schülerleben aus den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts zu besichtigen.

Von Sigurd Schwager

Jetzt ist schon wieder was passiert. Bei der Herbstlese. Fast auf den Tag genau vier Jahre nach dem „Brennerova“-Auftritt kehrt Wolf Haas zurück in die Aula des Erfurter Ratsgymnasiums. Mit einem neuen Werk und dem feinen Unterschied: Es fehlt darin der „Jetzt ist schon wieder was passiert“-Satz, den jeder Haas-Fan kennt und liebt. Muss fehlen, weil im jüngsten Buch „Junger Mann“ kein Mann namens Brenner vorkommt. Der Saal ist trotzdem bestens gefüllt und das offensichtlich gut gelaunte Publikum sehr gemischt. Man sieht Jung und Alt und Mittelalter, und der männliche Teil erscheint dabei nicht nur als höfliche Begleitung von Gattin oder Freundin.

Dem Österreicher Wolf Haas verdankt die deutschsprachige Kriminalliteratur eine ihrer interessantesten Figuren: Simon Brenner. 1996 schickt Haas seinen sehr eigenwilligen Detektiv erstmals an einen Tatort, nach Zell am See. Damit startet eine fulminante Karriere, denn für das Debüt gibt es sogleich den Deutschen Krimipreis. Sieben Brenner-Romane und noch viel mehr Preise folgen, Brenner-Filme mit Josef Hader als Idealbesetzung entstehen, ebenso Bühnenfassungen und Hörspiele. Nicht nur für den Herbstlese-Berichterstatter gehört dieser Brenner zum Besten, was das Genre zu bieten hat.

Nun präsentiert Wolf Haas, der in Wien lebt und demnächst 58 wird, einen Roman, der vom Erwachsenwerden erzählt. Das geschieht in der Ich-Form und ist manchmal nahe bei seinem Schöpfer, der den Vater des Buchhelden als „Herr Haas“ kenntlich macht.

Über Schreibgründe für „Junger Mann“ lesen wir im klugen Wiener Blatt „Der Standard“ folgendes: „Wolf Haas als Mensch, der sich mittlerweile im besten ÖBB-Frührentenalter befindet, hat sich offenbar dazu entschieden, sich ein wenig wehmütig an die schöne, suprige, manchmal gar nicht so tolle, oft auch nervige, sehr oft ordentlich arschige und immer wieder unerträgliche, zumindest aber vom Innerlichen her konstant aufregende Jugendzeit zurückzuerinnern: ‚Schon vor längerer Zeit hatte ich ein Naturgesetz entdeckt: Wenn man etwas sehr Schönes erlebte, passierte immer gleich etwas entsprechend Schreckliches.‘ Man liest und erinnert sich an die eigenen jungen Jahre. Besser ist es seitdem zwar auch nicht geworden, aber man konnte das ja nicht schon damals wissen.“

In Erfurt bedankt sich der Autor für den freundlichen Begrüßungsbeifall, bittet um ein wenig Nachsicht mit seinen Stimmbändern und absolviert anschließend souverän zweimal 45 Leseminuten in zu jeder Sekunde heiterer Übereinstimmung mit der geneigten Zuhörerschaft. Der Dichter trägt das Schwarz, das Theaterregisseure gern zur Premiere tragen, und er beginnt so, wie neun von zehn Herbstlese-Gästen beginnen: mit dem Anfang des Buches. „Mit vier Jahren brach ich mir zum ersten Mal das Bein. Mein großer Bruder hatte zusammen mit seinen noch größeren Freunden und deren noch größeren Brüdern eine Sprungschanze gebaut. Eine Schanze baute man, indem man eine Schaufel organisierte und Schnee auf einen Haufen schaufelte. Dann trampelte man darauf herum. Dann fuhr der Beste los und sprang am weitesten. Nach ihm der Zweitbeste am zweitweitesten. Zuletzt mein Bruder. Dann ich... Den Kopf senkte ich so tief, dass ich zwischen meinen Knien nach hinten schauen konnte. Rückwärts durch die Knie betrachtet war die Welt immer am interessantesten.“

Natürlich geht alles schief. Das Kind baut Unfälle, tröstet sich mit Autogrammen auf dem Gips und mit viel Schokolade. Aus dem Unglücksraben wird ein ziemlich dicker Junge, Er wiegt mit 13 Jahren 93 Kilo, arbeitet in den Schulferien an der Tankstelle, trifft die 20jährige Elsa, die verheiratet ist, verliebt sich, beschließt abzunehmen... Das volle Programm der Pubertät.

Ein Schülerleben aus den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts wird in der Erfurter Aula besichtigt. Das Publikum lauscht und genießt, schmunzelt, kichert und lacht. Die Stärken der Brenner-Romane sind auch die Stärken des neuen Buches: Haas verwandelt die Sprache des Alltags in eine neue, sehr eigene, die das Traurige und das Komische, das Schwere und das Leichte auf das Schönste miteinander verbindet. Dialogstark, lakonisch, schwarzhumorig - rückwärts durch die Knie betrachtet.

Die Kritik ist sich bei „Junger Mann“ weitgehend einig: Schnörkellos, grandios, sensationell, hinreißend und so weiter. Nur der „Zeit“-Rezensent hat „Kabarettprosa“ gelesen.
Der letzte Satz, den Wolf Haas in Erfurt aus seinem Buch vorträgt, hat nur zwei Wörter: „Sehr witzig.“ Ein passendes Stenogramm des Abends.
Beifall und Schokolade für den Gast und Zeit zum Signieren für das Publikum, das ihm dabei vielleicht auch die große Frage stellt: Gibt es irgendwann einen neuen Brenner-Krimi?

In Wien hat er darauf so geantwortet: „Ich habe das schon so oft dementiert, dass ich guten Gewissens Nein sagen kann, es wird mir keiner glauben.“

Weil das so ist, freuen wir uns auf den nächsten Herbstlese-Besuch von Wolf Haas. Hoffentlich nicht erst in vier Jahren.

Wolf Haas im Evangelischen Ratsgymnasium

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