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Erfurter Herbstlese
Es lebe die Erfurter Herbstlese!
Okt. 31 2018

Jana Hensel und Wolfgang Engler diskutieren im politischen Salon der Erfurter Herbstlese

Was ist nur los mit den Ostdeutschen?

In Erfurt stand dem Autorenduo Engler/Hensel als Moderator Hanno Müller zur Seite.
In Erfurt stand dem Autorenduo Engler/Hensel als Moderator Hanno Müller zur Seite.

Von Sigurd Schwager

„Wer wir sind“ heißt ein Roman von Sabine Friedrich und „Wer wir waren“ das literarische Testament von Roger Willemsen. „Wer wir sein könnten“ nennt Robert Habeck sein Buch und „Wer wir sind und was wir sein könnten“ Gerald Hüther das seinige. Es herrscht also kein Mangel an Wer-wir-sind-Werken. Nun liegt das nächste „Wer wir sind“ auf dem Büchertisch, diesmal von Wolfgang Engler und Jana Hensel. Es hält zum Glück mehr als der austauschbare Titel verspricht. Ein kluges, ein spannendes, ein anregendes Buch, meinungsstark und detailreich

Zwei markante Stimmen aus dem Osten, ein renommierter Soziologe und Hochschullehrer, geboren 1952 in Dresden, sowie eine preisgekrönte Journalistin und Autorin, geboren 1976 in Leipzig, suchen den Osten Deutschlands zu erklären. Sie tun das in einem sehr ernsthaften, sehr offenen Streitgespräch, das diesen Namen wirklich verdient. Es geht ihnen dabei um die Erfahrung, ostdeutsch zu sein, die sie mit heimatlos, mit unbehaust beschreiben. Einem Gefühl, das immer spürbar bleibt, das nie weggeht.

Der Gesprächsband hat nach seinem Erscheinen viel Aufmerksamkeit gefunden. Die Kritik bescheinigt (fast) unisono einen großen Wurf. „So kann die Debatte endlich neu beginnen“, hofft zum Beispiel Jens Bisky von der „Süddeutschen Zeitung“. Mit den Besprechungen und auch den ausführlichen Interviews, die die Autoren seither gegeben haben, ließe sich mühelos ein weiteres dickes Buch füllen, das vom schwierigen Verstehen des Ostens handelt und das die ostdeutsche Erfahrung als Nachwende-Erfahrung begreifbar macht.
Was ist los mit dem Osten und den Ostlern? Auch die Herbstlese mischt sich gern in die Debatte ein, lädt Jana Hensel und Wolfgang Engler gemeinsam mit der Friedrich-Ebert-Stiftung in ihren politischen Salon. Dass die Veranstaltung im Haus Dacheröden ausverkauft ist und aus dem Festsaal in Wort und Bild in die benachbarte Galerie übertragen wird, versteht sich angesichts des Themas fast von selbst. Souverän moderiert wird der Abend von TA-Redakteur Hanno Müller. Wie seine Gesprächspartner ist auch der erfahrene Journalist im Osten Deutschlands sozialisiert.

Die Schlagzeile des Tages sorgt für die Ouvertüre. „Frau Merkel geht - was bedeutet das für die Ostdeutschen?“ fragt Hanno Müller. Das Autoren-Duo, das im Buch deutlich unterschiedliche Auffassungen zu Angela Merkel und ihrer Politik vertritt, insbesondere das Jahr 2015 betreffend, ist sich auf dem Erfurter Podium einig: Dass ihr Entschluss Achtung gebiete, sie für das Geleistete allen Respekt verdiene und ihr Abschied eine Zäsur mit noch unabsehbaren Folgen darstelle. Ihr öffentliches Bild sei allerdings nicht das einer Ostdeutschen gewesen, sondern stets gedeutet worden aus einer westdeutschen Perspektive. Sie habe sehr glaubwürdig den Eindruck erweckt, sei sie in der alten BRD groß geworden.

Dann erzählen Hensel und Engler, die sich vor „Wer wir sind“ nicht persönlich kennen, wohl aber ihre bisherigen Arbeiten, von der Entstehungsgeschichte. Die Idee zu dem Buch wird am Tag der Bundestagswahl 2017 geboren. Zehn lange und intensive Gespräche folgen. Als sie überarbeitet längst schon im Druck sind, stehen dem Land die Ereignisse in Chemnitz noch bevor.

Wir glauben, sagt Engler, dass die Erfahrungen vieler Ostdeutscher der 1990er Jahre der hauptsächliche Schlüssel zum Verständnis dessen ist, was danach passierte. Der Kollaps der Gesellschaft, so Hensel, habe sich in einer kaum vorstellbaren Radikalität und Schnelligkeit vollzogen. Wer sich im Osten nur ein bisschen auskenne, dem sei bewusst gewesen, dass es brodele und irgendwann eine Art Protestwelle kommen müsse. Pegida und AfD sind in diesem Sinne für die Autorin, eine ostdeutsche Emanzipationsbewegung ohne emanzipatorischen Kern, deren Inhalte sie nicht teile.

Als Lese-Ausschnitt haben die Autoren das Kapitel III ausgewählt, das sie in Erfurt als Herzstück ihres Buches bezeichnen. Zwei Sätze sind ihm vorangestellt: „Bis 1989 waren die in der DDR lebenden Menschen Ostdeutsche an sich, danach wurden sie zu Ostdeutschen für sich.“ (Engler) „In den neunziger Jahren wurden in Ostdeutschland fundamental andere Erfahrungen als in Westdeutschland gemacht.“ (Hensel).

Natürlich wisse sie, liest Jana Hensel aus dem Gespräch vor, dass die Rede von den Ostdeutschen eine unerlaubte Verkürzung sei. Man spreche, fährt Wolfgang Engler fort, von einem Kollektiv, das es so nicht gebe. Und wieder Hensel: Um Gehör zu finden, arbeite man ständig mit der eigentlich unverzeihlichen Pauschalisierung. In „totum pro parte“, sozusagen. Wirtschaftlicher Zusammenbruch, demographisches Beben, Abwanderung, Elitenaustausch, politischer und kultureller Systemwechsel kennzeichneten die ostdeutsche Erfahrung. Die vielfältigen Auswirkungen spüre man bis heute. Engler: „Radikale Veränderungen und Umbrüche in einem Zug, und das in drei vier Jahren.- dafür haben sich die Ostler großartig geschlagen, das kann man doch nicht anders sagen.“ Hensel: „Absolut, und ohne einen Therapeuten an ihrer Seite zu haben, in welcher Art auch immer.“
Das Herbstlese-Publikum hört aufmerksam zu, signalisiert Zustimmung. Gleichwohl erlebt es keine dramatischen Bühnenmomente, denn die Autoren, die ihre in schriftliche Form gegossene mündliche Rede abwechselnd vortragen, sind nun mal keine Schauspieler. Deshalb ist der auf die Lesung folgende Teil der Veranstaltung, das Gespräch mit dem Moderator und die Beantwortung von Zuhörerfragen, der lebhaftere Abschnitt des Abends. Er lässt Raum für Emotionen.

Was auch deutlich wird in Erfurt: „Wer wir sind“ ist kein Buch nur für Ostdeutsche, sondern wichtiger Lesestoff für alle, die beunruhigt sind von bestimmten Entwicklungen in unserem Land und sich darüber mit anderen austauschen wollen. Ostdeutsche Erfahrung scheint bis heute unerwünscht zu sein. Deshalb bleibt Trennendes fest zementiert, vielleicht sogar fester denn je.

Am Ende gibt es viel Beifall für Jana Hensel, Wolfgang Engler und Hanno Müller.

Vorhang zu und viele Fragen offen – bis auf die eine: Sollte man dieses Buch lesen? Unbedingt!

Wolfgang Engler und Jana Hensel im Kultur: Haus Dacheröden

Fotos: Uwe-Jens Igel

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