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Erfurter Herbstlese
Es lebe die Erfurter Herbstlese!
April 13 2015

Die Erinnerungen an die Auftritte von Günter Grass in Erfurt zeichnen das Bild eines streitbaren Autors

Wahlkampf mit Eintritt

Am 4. September bestritt Günter Grass in der prall gefüllten Thomaskirche eine Extra-Herbstlese.
Am 4. September bestritt Günter Grass in der prall gefüllten Thomaskirche eine Extra-Herbstlese.

Günter Grass ist tot. Sofort gehen die Gedanken zurück in die Vergangenheit. Zwei Mal war der Großschriftsteller bei der Herbstlese in Erfurt zu Gast; 1998 war das und acht Jahre später, als er die Jubiläumsausgabe, die zehnte Herbstlese, eröffnete. Jedes Mal machte er es seinen Einladern nicht leicht – zunächst als Wahlkämpfer für rot-grün in Berlin, dann als älterer Herr und Nobelpreisträger mit Erinnerungslücken. Oder mit selektiver Erinnerung, je nach Les-Art und Geschmack. Ein Rückblick.

Die Herbstlese gibt es inzwischen fast zwei Jahrzehnte. Seit der Premiere mit Marcel Reich-Ranicki 1997, der ja inzwischen auch nicht mehr unter den Lebenden weilt, ist eine ganze Menge Wasser die Gera hinuntergeflossen. An berühmten Namen im Programm hat es nie gemangelt, Nobelpreisträger indes sind eine ganz eigene Kategorie. Mit anderen Worten, Günter Grass ist in dieser Frage ein Solitär. Herta Müller war zwar auch schon in Erfurt zu Gast, aber das war lange vor dem Anruf aus Stockholm. Vor ihrer Lesung im Café Nerly musste Michael John den halbwegs Willigen noch gut zureden, sonst wäre die Sache mangels Publikum ganz ins Wasser gefallen. So ändern sich die Zeiten.

Mit Günter Grass war das anders. Der war, gerade im Osten, nach der Wende ein echter Zuschauermagnet. Als die Herbstlese an den Start ging, stand sein Namen ganz oben auf der Wunschliste der Veranstalter. Und die Zeit war günstig. 1997 war nicht nur das Jahr der ersten Erfurter Herbstlese, Monate zuvor, zum Jahresanfang, gab die Landeshauptstadt ihren Namen auch für ein ganz besonderes Papier: Die Erfurter Erklärung.

Die wenigsten werden sich heute noch an sie erinnern. Ehrenwerte Männer und Frauen, viele von ihnen der friedlichen Revolution in der DDR verpflichtet (das Wort Wende verbietet sich hier aus Respekt vor ihren Biographien), riefen darin zu einem Politikwechsel in Deutschland auf; verkürzt hieß das: Kohl muss weg. Es war, wenn man so will, die Vorwegnahme von Rot-Rot-Grün, wobei Rot-Grün dabei das primäre Ziel war. Die PDS reichte damals auf Ländereben als Schreckgespenst nicht aus, das mussten die Grünen noch mitbesorgen. Und dennoch: Unter den Unterzeichnern der Erfurter Erklärung finden sich unter den ersten die Namen des Pfarrers Friedrich Schorlemmers, des Gewerkschafters Bodo Ramelow und – des Schriftstellers Günter Grass.

Dazu kam ein weiteres historisches Moment. Um diese Zeit hatte Peter Glotz an der Universität Erfurt angeheuert. Als Gründungsrektor sah man ihn oft bei einem Viertel Roten am Wenigemarkt sitzen. In der „Drogerie“ sinnierte er des Abends über den Lauf der Zeit, den Wandel der Republik von einer Bonner zur Berliner. Es war ein Wandel, der des einstigen Vordenkers nicht mehr bedurfte. Statt im Bundestag saß er nun tagsüber auf der Krämerbrücke, von wo aus die junge Hochschule Anlauf nahm zum ganz großen Sprung. Die Träume flogen hoch, das Wort vom „Harvard an der Gera“ spricht davon Bände.

Glotz und Grass kannten sich gut. Gemeinsam hatten sie für Willy Brandt den Wahlkampf organisiert. Beide waren sie Männer der Worte. Warum sollte es also dem Rektor nicht gelingen, den Schriftsteller nach Erfurt zu locken?

Peter Glotz schrieb einen Brief, der in Lübeck freundliche Aufnahme fand. Günter Grass stieg damals gerade wieder in den politischen Ring. Nach Wahlkampfauftritten in Schwerin, Weimar und Jena, wo er sich für eine rot-grüne Bundesregierung und eine Verfassungsreform einzusetzen gedenke, sei er eh in der Gegend. Warum also nicht einen literarischen Ausflug nach Erfurt daran anschließen?

Gesagt, getan. Grass würde kommen. Bei der Herbstlese war die Freude groß. Weil das eigentliche Festival aber erst im Oktober beginnen sollte, kam es zur ersten Extra-Herbstlese. Die Organisatoren mieteten die Thomaskirche an, die inklusive ihrer Emporen weit über 1000 Menschen zu fassen vermag. Eintrittskarten wurden gedruckt und schnell verkauft, Einladungen verschickt. Alles schien angerichtet.

Nun mag es sein, das Glotz und Grass sich ein wenig missverstanden hatten. Langsam schien dem Rektor aber zu dämmern, was der Schriftsteller vorhatte. Kurz vor dem 4. September, dem Tag der Tage, fiel ersterem plötzlich ein, dass er zu einer wichtigen Aufsichtsrat-Sitzung müsse. Den Sinneswandel mag eine kurze Notiz im „Kultur Spiegel“ beflügelt haben, der Ende August schrieb:

„Kurz vor der Wahl mehren sich die Unkenrufe: Das nahe Ende der Ära Kohl sei kein Aufbruch wie in den glorreichen Sechzigern, als Kanzlerkandidat Willy Brandt ein neues Land erfinden wollte. Mit dabei waren Literaten wie GÜNTER GRASS, der jetzt unter dem Motto „Zeit, sich einzumischen“ in den neuen Ländern für die alten Ideale kämpft. Erfurt, Thomaskirche, 4.9., 20 Uhr.“

Die letzten Zweifel räumte der Schriftsteller dann selbst aus. Als er am 4. September mit einem roten Wahlkampf-Bus der SPD vor dem Café Nerly vorfährt (gleicher Name, aber anderer Ort: damals logierte das Nerly gerade in einer alten Villa in der Espachstraße im schönsten Erfurter Süden), musste auch dem letzten Hoffenden klarwerden, was Grass will. Dennoch erlauben sich die Organisatoren eine zaghafte Nachfrage: Es bliebe doch beim literarischen Vortrag, nicht wahr?

Günter Grass gilt gemeinhin als Freund klarer Worte, oft weit über jedes diplomatische Maß hinaus. Diesem Ruf wird er auch in Erfurt gerecht. Er sei hier, um rot-grün zu unterstützen. Und wenn die beiden lokalen Kandidaten – der blutjunge Carsten Schneider für die SPD und die bereits mit einigen Blessuren aus der Landespolitik ausgestattete Thüringer Sprecherin der Grünen Katrin Göring-Eckardt  – nicht vor ihm sprechen dürften, würde er gleich wieder fahren.

Was also tun? Mehr als 1000 Tickets sind verkauft. Es gibt kein Zurück.

Daan geht es los. Zunächst begrüßt TA-Chefredakteur Sergej Lochthofen die Menschen in der Kirche. Er fühlt sich zwar durchaus als Lückenbüßer für den verhinderten Peter Glotz missbraucht, nimmt die Sache aber sportlich und mit einem Anflug Humor, den das Auditorium (noch) in Unkenntnis der Lage nicht ganz zu verstehen scheint. Dann sprechen die beiden Kandidaten (die es wenige Wochen später wirklich in den Bundestag und bis heute dort zur Fraktionschefin bzw. zum Vize-Chef gebracht haben), dann legt Grass selbst los.

Und wie. Kein gutes Wort lässt er an der Kohl-Regierung, am Grundgesetz und am Beitritt der DDR zur Bundesrepublik. Er fordert einen Regierungswechsel und eine Verfassungsreform. Es sind die gleichen Worte wie in Schwerin, Weimar und Jena. Es ist Wahlkampf pur.

Das merken auch die Menschen in der Kirche. Kaum ist die Rede zu Ende, drängt ein junger Mann an eines der Saal-Mikrophone. Er habe, sagt er, eine Karte für eine Extra-Herbstlese gekauft. Seit wann, bitte schön, müsse man denn in Deutschland für Wahlkampf bezahlen? Zustimmendes Gemurmel und vereinzelter Beifall zeigen, dass er mit seiner Meinung nicht allein steht.

Die Erwiderung von Grass fällt poltrig aus. Er sei um einen Auftritt gebeten worden und den liefere er nun ab; mit einem Eintritt habe er nichts zu tun. Spiel, Satz – und Match? Nein, eine ältere Dame rettet die Situation. Ob er denn nicht wisse, wendet sie sich an ihren Vorredner, dass alles, was Günter Grass schreibe, politisch sei? Anschwellender Beifall, Situation und Veranstaltung sind gerettet. Jetzt drängen sich Männer und Frauen an den Mikrofonen, um zu erfahren, was sie Günter Grass schon immer einmal fragen wollten.

Die Herbstlese hat diesen Tag in der Thomaskirche gut überstanden. Seit 1998 haben sich die Zuschauerzahlen fast verzehnfacht. 2006 lagen sie bei der zweiten Visite des inzwischen ernannten Nobelpreisträgers schon fast auf dem aktuellen Stand. Doch auch dieser Besuch stand unter keinen guten Stern. Mit „Beim Häuten der Zwiebel“ war auch das vom Schriftsteller bis dahin verschwiegene, wenig ruhmreiche Verhalten in der Nazizeit den Deutschen zur Kenntnis gelangt. Dennoch hielt seine treue Fangemeinde zu ihm. Zum Abend in der Alten Oper kamen wieder über eintausend Menschen.

So bleibt die Erinnerung an den großen Dichter eine zwiespältige. Vor allem ist es die Erinnerung an einen streitbaren, an einen politischen Autoren. Möge er jetzt seine letzte Ruhe finden.

Günter Grass 1998 in der Thomaskirche

Fotos: Herbstlese-Archiv / Peter Riecke

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