Der Vorsitzende der Jüdischen Landesgemeinde Reinhard Schramm stellt bei der Herbstlese seine Lieblingsbücher vor
Weisheit, Witz und Waffe
Von Hanno Müller
Was sagen Bücher über den, der sie liest? Darauf antworten prominente Thüringer regelmäßig in der Reihe „Mein Lieblingsbuch“ im Erfurter Kultur: Haus Dacheröden. Um das Ganze noch ein wenig bekannter zu machen, bettete die Herbstlese ihren Gast am vergangenen Sonntag in das Programm des Literaturfestivals ein. Wie immer hatte auch der Vorsitzende der jüdischen Landesgemeinde, Reinhard Schramm, drei Bücher mit an den Erfurter Anger gebracht. Eigentlich waren es sogar vier.
Darunter der viel diskutierten Roman „Der Junge im gestreiften Pyjama“ von John Boyne. Der irische Schriftsteller bekam für seine auch verfilmte Darstellung der Freundschaft zwischen zwei Jungen – Bruno, dem Sohn eines KZ-Kommandanten, und Schmuel, einem Häftlingskind (der Junge im gestreiften Pyjama), die sich heimlich am Lagerzaun treffen – viel Lob. Er musste sich aber auch Kritik gefallen lassen, seine Geschichte sei unrealistisch, profaniere den Holocaust.
Letzteres sieht Reinhard Schramm im Gespräch mit dem Journalisten und Vorsitzenden des Vereins Erfurter Herbstlese, Dirk Löhr, anders. Zum einen interessiere ihn, wie ein Ire als Außenstehender über die jüdische Thematik schreibt. Zum anderen fasziniere ihn am Buch, in dem beide Kinder bei der naiven Suche nach Schmuels Vater in der Gaskammer enden, die emotionale Wucht, mit der John Boyne das Schicksal von eineinhalb Millionen ermordeten jüdischen Kindern zusammenfasst. „Für mich ist das ein wertvolles Buch. Mit Emotionalität kann man viele, vor allem junge Menschen ansprechen, die das Thema sonst vielleicht nicht erreichen würde. Ohne das wiederholen wir die Fehler der Vergangenheit“, sagte Schramm.
Für ihn verschmelze da die literarische mit der eigenen Geschichte. Geboren wurde Schramm 1944 als Sohn einer jüdischen Mutter und eines nichtjüdischen Vaters. Leidenschaftlich erzählte er von der sogenannten „Mischehe“ seiner Eltern in Weißenfels und davon, wie der Vater versuchte, seine Familie vor dem Zugriff der Nazis zu bewahren.
Überleben konnten Mutter und Sohn schließlich auch durch die Hilfe eines Kommunisten, der beide versteckte. „Pauschaler Antikommunismus fällt mir deshalb bis heute schwer“, sagte Schramm.
Vor diesem Hintergrund erklärte sich auch sein zweites „Lieblingsbuch“: Stefan Hermlins „Die erste Reihe“. Der 1952 als kommunistisches Auftragswerk erschienene Sammelband erinnert an zum Teil kaum noch bekannte antifaschistische Widerstandskämpfer wie Rudi Arndt, Arthur Becker, Werner Seelenbinder, Lilo Herrmann oder die „Weiße Rose“. In ihrer pathetisch-propagandistischen Machart seien Hermlins Porträts heute eigentlich nicht mehr lesbar, fand Dirk Löhr.
Mag sein, räumte Reinhard Schramm ein. Im Buch gehe es aber auch um die jüdische Kommunistin Olga Benario-Prestes, deren zweiter Nachname auf eine angebliche Ehe mit dem brasilianischen KP-Funktionär Luís Carlos Prestes zurückgeht. Benario war das Kind einer jüdisch-sozialdemokratischen Anwaltsfamilie und sei wie seine Großmutter im Konzentrationslager Bernburg ermordet worden. In der DDR seien Juden und ihr Schicksal nicht so ernst genommen worden. „Juden galten ‚nur‘ als Opfer, gefragt waren Widerstandskämpfer. Bemerkenswerter Weise hat Hermlin einige Juden in sein Buch eingeschmuggelt, dabei allerdings ihre jüdische Herkunft verschwiegen“, sagte Schramm. Nach der Wende wurde eine nach Olga Benario benannte Jugendherberge umbenannt. Mit anderen habe er vier Jahre lang gekämpft, bis der Name schließlich wieder vergeben wurde.
Als drittes Lieblingsbuch präsentierte Schramm Josef Joffes „Mach dich nicht so klein, du bist nicht so groß“ über jüdischen Humor als Weisheit, Witz und Waffe. Im jüdischen Witz blitze selbstbewusster Geist auf gegen fremde Macht und Bevormundung, sagte Schramm.
Nachtrag: Da der Platz in der Zeitung nicht ausreichte, blieb das vierte Buch in der TA unerwähnt. Dabei war es für Reinhard Schramm zunächst die erste Wahl. Weil die Lieblingsbücher nach und nach im Kultur: Haus Dacheröden zu einer eigenen Bibliothek anwachsen sollen, kann es jeden Vorschlag aber nur einmal geben.
So musste Schramm auf Ernest Hemingways „Der alte Mann und das Meer“ verzichten, das hatte zuvor schon der Schriftsteller Landolf Scherzer in die Sammlung eingebracht. Vielleicht klappt es aber mit der russischen Übersetzung des weltbekannten Buches. „Starik i Morje“ hatte sich der junge Reinhard nämlich besorgt, um die Sprache der Befreier zu erlernen. Warum es ihm dafür geeignet schien? „Es war nicht allzu dick“, räumte der Herbstlese-Gast mit seinem typisch verschmitzten Lächeln ein.
Der Artikel erschien zunächst in der Ausgabe vom 9. Oktober 2018 der „Thüringer Allgemeine“.