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Erfurter Herbstlese
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Nov. 13 2023

zum 75. von Thomas Thiemes - ein Abend mit Iris Berben und Frank Quilitzsch

Wenn der alte Rock ‘n‘ Roller feiert

Ziemlich gute Freunde - Iris Berben und Thomas Thieme auf der Bühne des Erfurter Kaisersaals. (Foto: Mario Hochhaus)
Ziemlich gute Freunde - Iris Berben und Thomas Thieme auf der Bühne des Erfurter Kaisersaals. (Foto: Mario Hochhaus)

Von Sigurd Schwager

Cicero lässt grüßen an diesem November-Abend: Aetas volat. Die Zeit fliegt. Und wie! Kaum dass sich neulich in Erfurts ausverkaufter Oper das begeisterte Herbstlese-Publikum von den Stühlen erhoben hat, um Thomas Thieme zum 70. Geburtstag zu gratulieren, da betritt der große Mime tatsächlich schon wieder als Jubilar die Herbstlese-Bühne. Der Kalender lügt nicht. Neulich war im November vor fünf Jahren. Zeit also für eine weitere Hommage, die wie die vormalige eine öffentliche Nachfeier ist.

Den zählbaren Anlass wird der wuchtige Mann aus Weimar später sanft brummelnd entweihräuchern: „75 eben. Besser wird‘s nicht.“ Statt im neuzeitlichen Haus am Brühl, wo Thieme mit zarten 74 Jahren beinahe sein Debüt als Opern-Regisseur gegeben hätte, empfängt er diesmal die Huldigungen im prächtigen Kaisersaal, einem alten Gemäuer mit überbordender politischer und kultureller Tradition.

Ein passender Ort für einen wie Thieme, denn hier, mitten im alten Erfurt, blättert man auch in einem Buch voller Theatergeschichten. Goethe mit seiner Weimarischen Hofschauspieler-Gesellschaft kommt darin vor, ebenso Schiller, der der Uraufführung seines „Don Carlos“ in Prosafassung beiwohnt. Und Napoleon, der 1808 zum Fürstenkongress die berühmte Comédie-Française von Paris nach Erfurt abkommandiert.

Die Gegenwart zeigt den Kaisersaal bis auf den letzten Platz gefüllt. Mit Goethe zu sprechen: Solch ein Gewimmel möchte‘ man sehn – und sieht wohl auch der einst als Weimarer „Faust" glänzende Thieme gern.

Wie manch andere im Saal erinnert sich der Berichterstatter noch gut an die Dramaturgie zum 70. Den passenden Rahmen für das Geburtstagsporträt liefert damals „Ich Hoeneß Kohl“, das zweite Gesprächsbuch von Thomas Thieme und Frank Quilitzsch. Daraus lesen Günter Netzer und Iris Berben mit verteilten Rollen: das Fußball Genie die Fragen, der Schauspielstar die Antworten. Der seit frühen Motor-Weimar-Zeiten Fußball verrückte Thieme sitzt derweil im Ersten Parkett und wird hernach von Moderator Quilitzsch auf die Bühne gebeten.

Netzer, der Nestor der Opernhaus-Runde, fehlt jetzt im Kaisersaal, ist aber als langmähniges Fußballwunder Teil der prominent bestückten Foto-Show im Bühnen-Hintergrund. Davor agiert heute die Interview-Originalbesetzung: Quilitzsch liest die Fragen von Quilitzsch und Thieme die Antworten von Thieme. Iris Berben hat in der ersten Reihe Platz genommen und lauscht interessiert. Was sie vernimmt, gefällt ihr genauso gut wie allen anderen im Saal, weshalb sie öffentlich bekundet, am liebsten bis zum Ende Zuhörerin bleiben zu wollen.

Ein unerfüllbarer Wunsch. Das bestätigt der rauschende Beifall, der ihren Weg auf die Bühne begleitet. Sie umarmt Thieme, nimmt den Handkuss von Quilitzsch entgegen und flutet sogleich den Saal mit ihrem Temperament Sie beginnt zu singen, und alle stimmen ein: Happy Birthday to you, happy Birthday lieber Thomas...

Der liebe Thomas wirkt schwer beeindruckt, zieht sein rotes Basecap vor den stimmgewaltigen Berben-Chören, rückt die Vorsängerin charmant in die Nähe von Marilyn und merkt zufrieden an: „Wer kann in meinem Alter eine solche Freundin vorweisen?“

Was er darüber hinaus künstlerisch vorweisen kann, hat zuvor die Lese-Stunde veranschaulicht. Da zelebrieren Netzer & Delling, pardon Thieme & Quilitzsch, im Gespräch ihr Miteinander, das auf einem singulären Langzeit-Projekt gründet. Seit 2001 ruft der Journalist Frank Quilitzsch den Schauspieler an. „Herr Thieme, wo sind Sie?“ Wieder und wieder befragt er ihn zu den Dingen des Lebens und der Kunst. Die Bilanz seither: 249 Interviews, veröffentlicht in der Thüringischen Landeszeitung, zwei Gesprächs-Bücher, viele gemeinsame Lese-Auftritte. Weit wichtiger als die Statistik ist beiden aber etwas ganz anderes, das sie unisono verkünden: 22 lange Jahre kein Gebrüll, kein einziger Streit. Nirgends. Die Erklärung? Da, wo er charakterlich eine Wölbung habe, sagt Thieme, habe Quilitzsch eine passende Delle. Z

Zum 75. Geburtstag präsentieren sie nun eine Best-of-Variante. Sie erhebt nicht den Anspruch, ein dichtes Porträt per Telefon zu sein. Wohl aber wirft die amüsante Zettelwirtschaft Blatt für Blatt Schlaglichter auf ein erfüllendes Künstlerleben. Auch wenn das Duo gemeinsam vor allem die Wege seit der Jahrtausendwende markiert, bleibt ausreichend Zeit, weit zurückzublicken: auf Kindheit und Jugend in Weimar, Studium in Berlin und erste Engagements, auf die Staatsprovinz DDR, in der ihn bald nichts mehr hält und den ungewissen Neubeginn im Westen.

Heute ist er im Lande längst einer der Angesehensten seiner Zunft. Große Rollen, große Bühnen, große Regisseure. Schauspieler des Jahres als Richard III. Zudem all die Filme im Kino und Fernsehen, die Serien, Hörspiele, Hörbücher und Programme. Thieme als Kohl und Krupp, Hoeneß und Bismarck, Bormann und Zörgiebel, Gauck und Schalck-Golodkowski, Holländer-Michel und Unterleuten-Boss. Thieme als Kulturminister im „Leben der Anderen“ und als Markus Koerber an der Seite von Rosa Roth.

Iris Berben, die nach der schon erwähnten Gesangseinlage im Kaisersaal bei den Herren auf der Bühne Platz nimmt, müht sich sichtlich darum, dass der Jubilar stets im Mittelpunkt des Geschehens bleibt, was bei ihrer eigenen Beliebtheit natürlich nicht durchzuhalten ist. Thieme aber gefällt das. Gern leitet er Elogen an sie weiter. Er sei, sagt er, schwer erziehbar vor der Kamera gewesen, sie habe ihn sozialisiert.

Wenn Iris Berben über ihren Kollegen spricht, dann gerät sie ins Schwärmen. Er sei ein wunderbarer Schauspieler und ein Mensch, der sich nie verbiegen lasse. Eine schöne Magie nennt sie ihre Freundschaft. Sogar ein Thieme-Porträt des Malers Harald Reiner Gratz ziere ihr Wohnzimmer. „Ich habe es gekauft“, erzählt sie, „weil ich Thomas unbedingt bei mir zuhause haben wollte.“ Sie schaut dabei in die Gesichter im Saal und lächelt: „Nein, wir sind kein Paar!“ Dann folgt der vielleicht schönste Satz des Abends: „Ich liebe Thomas auch deshalb, weil er ein alter Rock ‘n‘ Roller ist.“ „Das ist Rock ‘n‘ Roll“, murmelt der Jubilar zurück. Szenenapplaus.

Bewegt erlebt man Thieme auch, wenn er die großformatigen Bilder betrachtet, die das Gespräch auf der Bühne illustrieren. Sie zeigen zum Beispiel seinen alten Chef, Ziehvater und Kinds-Paten Peter Sodann, den von Thieme nach der Fußballkarriere auf die Bühne geholten Jimmy Hartwig und den Weimarer „Baal“ Ben Becker, außerdem Thieme als Faust im DNT mit seinem kongenialen Partner Marek Harloff als Mephisto.

Aber auch die Vergänglichkeit scheint immer wieder auf. Zu sehen ist der so früh verstorbene wunderbare Schauspieler Ulrich Mühe, dem Thieme eng verbunden war, oder der hochgeschätzte Peter Simonischek, nur zwei Jahre älter und nun auch schon tot. Thomas Thieme macht keinen Hehl daraus, dass er nicht zu denen gehört, die dieses Thema verdrängen.

75 eben. Vor allem aber beglaubigen die zwei unterhaltsamen Kaisersaal-Stunden einen Satz aus Henryk Goldbergs Gratulation zu Thiemes 75. in der „Thüringer Allgemeinen“: „Das Bewundernswerte, das Faszinierende an diesem Schauspieler ist seine Energie."

Thiemes erster Leinwand-Auftritt datiert von 1975. Er spielt in Egon Günthers hochkarätig besetztem Film „Lotte in Weimar“ Johann Christian Kestner, den Ehemann von Charlotte Buff. Fast ein halbes Jahrhundert später, 2024, gelangt sein neuester Film ins Kino. Robert Thalheims Komödie „Kundschafter des Friedens 2“ lockt wieder mit starken Namen: Harfouch und Thalbach, Glatzeder, Hübchen und Thieme. Nur Michael Gwisdek fehlt. Er schaut vom Schauspielhimmel aus zu. Thomas Thieme, im frühen richtigen Leben ein Lockenkopf, gibt wieder den pensionierten DDR-Agenten Locke. „Wir scheitern mit Würde“, verspricht der Schauspieler im Kaisersaal.

Zum heiteren Grundton passen die finalen bewegten Bilder. Die kurze reale Comedy dokumentiert, wie Iris Berben bei einer Lesung in Ranis Thomas Thieme versehentlich Wein auf die Hose kippt und wie danach beide wider die peinliche Situation extemporieren. Sketchup pur in Thüringen.

Das Publikum in Erfurt freut sich lautstark, und auf der Bühne klingen ein letztes Mal die Gläser. Happy Birthday! Üppiger Beifall.

Aetas volat. Mag die Zeit doch fliegen. Dann sehen wir uns zum Glück bald wieder, Herr Thieme.

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