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Erfurter Herbstlese
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März 16 2016

Gerhart Baum und Burkhard Hirsch beeindrucken das Erfurter Frühlingslese-Publikum im Hause Hugendubel

Wider die Gefährdungen der Freiheit

Die Herren Baum und Hirsch gelten gemeinhin als das sozial-liberale Gewissen Deutschlands.
Die Herren Baum und Hirsch gelten gemeinhin als das sozial-liberale Gewissen Deutschlands.

Von Sigurd Schwager

Wenn in Thüringen zu einer Veranstaltung mit FDP-Politikern eingeladen wird, ist heutzutage das Gegenteil von Publikumsandrang zu erwarten. Es geht aber auch ganz anders, wie zwei hellwache ältere Herren und das große öffentliche Interesse an ihrem Dasein und ihrem Denken beweisen. Als Gäste von Frühlingslese und Friedrich-Naumann-Stiftung stellen sie ihr taufrisches Buch „Deutschland von seiner liberalen Seite“ bei Hugendubel auf dem Erfurter Anger vor. Sie tun das nur einen Tag nach dem Erscheinen ihres Gesprächsbandes und nur zwei Tage nach den drei Wahlen, die das Land politisch beträchtlich erschüttern.

Gerhart Baum und Burkhard Hirsch, von denen hier die Rede geht, werden gern wahlweise als liberales Urgestein oder liberales Gewissen der Republik bezeichnet. Das eine wie das andere ist nicht maßlos übertrieben.

Baum und Hirsch, das sind zusammen 129 Jahre Mitgliedschaft in der FDP.  Schwierige, mühselige, kämpferische Jahre. Erfolg und Scheitern inklusive. „Wir hatten“, sagt Baum, „nie die Mehrheit in der Partei, man kam aber an uns auch nicht vorbei.“

Gerhart Baum, Jahrgang 1932, und Burkhard Hirsch, Jahrgang 1930, sind Brüder im Geiste ihrer liberalen Grundüberzeugungen und seit sechs Jahrzehnten befreundet. Eng befreundet, was sie nicht daran hindert, sich immer noch zu siezen.

Man findet bei diesen beiden großen Stimmen des linken Flügels der FDP viele Gemeinsamkeiten auf ihrem Lebensweg. Beide haben ostdeutsche Wurzeln. Ihre Geburtsstädte Dresden (Baum) und Magdeburg (Hirsch) werden im Zweiten Weltkrieg zerstört. Beide verlassen ihre Heimat gen Westen, leben heute in Köln bzw. in Düsseldorf. Beide studieren Jura und beginnen ihre Politikerkarriere in der damals noch von Altnazis geprägten nordrhein-westfälischen FDP.

Beide werden später Innenminister. Baum im Bund unter Kanzler Helmut Schmidt, Hirsch in NRW. Beide gehören zu den treibenden Kräften im politischen Architekturbüro der sozial-liberalen Koalition, und sind später gegen den Partnerwechsel zur CDU und in die Regierung Kohl. Beide sind aber trotz allem in der Partei geblieben, mit der sie so oft hadern.

Und sie streiten bis heute unvermindert gegen Freiheits-Gefährdungen, für sozialen Liberalismus, für die Bürgerrechte, für mehr Datenschutz, für eine humane Asylpolitik. Wie unverdrossen sie das tun, das kann man an diesem Frühlingslese-Abend in Erfurt von der ersten bis zur letzten Minute beobachten, und es fällt wirklich schwer, davon nicht beeindruckt zu sein.

Die Zuhörer erleben genau das, was der Rezensent der "Frankfurter Rundschau" beim Lesen des Buches des 83jährigen und 85jährigen empfunden hat: Der aufrechte Gang ist keine Altersfrage und radikales Denken kein Privileg der Jugend. Deshalb ist das Buch weit mehr als unterhaltsames Erinnern an alte Zeiten und nachdenkliche Rückschau -  und das Gespräch darüber erst recht ein sehr heutiges.

Natürlich spielen die Ergebnisse der drei Landtagswahlen und ihre Folgen eine große Rolle. Die meisten im Saal haben vermutlich das Interview in der „Thüringer Allgemeine“ gelesen und darin die Wahlprognose von Gerhart Baum: „Wir werden bei den Veränderungen von Koalitionen noch manche Überraschungen erleben. (. . .) Leute, die bisher nie miteinander koaliert haben. Die Parteien werden gezwungen, das Gemeinsame zu suchen. Gut so!“

Geführt hat das Zeitungsgespräch TA-Redakteur Hanno Müller, der nun mit auf dem Podium sitzt und sich als kluger, souveräner Moderator erweist. Proteststimmung, Parteienverdrossenheit, Politikerverachtung, Pegida und AfD, Umgang mit Angst, Flüchtlingskrise, aufblühender Nationalismus in Europa, unwürdige Entsolidarisierung, Respekt vor Angela Merkel, die aus ihrer Vorsicht herausgetreten ist . . .

Auch der von ihnen hochgeschätzte junge FDP-Chef Christian Lindner bekommt, auf Nachfrage aus dem Auditorium, einmal sein Fett weg: Es sei ein schwerer Fehler gewesen, dass die FDP vor der Wahl in Baden-Württemberg ohne Not eine Koalition mit den Grünen kategorisch ausgeschlossen habe.

Dieser anspruchsvolle Abend wird auch ohne letzte Antworten ein erhellender, weil man hier beim tiefgründigen Denken zusehen und zuhören kann, mit- und weiterdenken darf und soll. Immer wieder gibt es Szenenapplaus. Der gilt auch dem unentwegten juristischen Kampf von Baum und Hirsch gegen Vorratsdatenspeicherung, Lauschangriffe, gegen Big Data und Big Brother. „Unser ganzes politisches Leben“, heißt es dazu im Buch von Baum und Hirsch, „war geprägt vom Spannungsverhältnis zwischen Sicherheitswahn und Freiheit.“

Langer herzlicher Beifall für Baum und Hirsch, die ihrerseits dem Moderator Hanno Müller applaudieren. Ob die beiden älteren Herren tatsächlich das interessanteste und zugleich unterhaltsamste politische Buch des Jahres geschrieben haben, wie der FR-Rezensent meint, wird sich noch zeigen müssen. Die Zuhörer in Erfurt dürften sich wohl einig sein, eines der interessantesten und zugleich unterhaltsamsten politischen Gespräche der jüngsten Zeit erlebt zu haben.

 

Die Herren Baum und Hirsch bei Hugendubel

Fotos: Holger John

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