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Erfurter Herbstlese
Es lebe die Erfurter Herbstlese!
April 19 2020

Vorgestellt von Monika Rettig, Programmchefin der Erfurter Herbstlese

David Wagner „Der vergessliche Riese“

David Wagner „Der vergessliche Riese“
David Wagner „Der vergessliche Riese“

Mit zunehmendem Alter verkehrt sich meist das Verhältnis zwischen Eltern und ihren Kindern, die Rollen werden getauscht. Nun sind es die Kinder, die sich sorgen und kümmern, die unterstützen und Hilfe leisten. Eine Krankheit wie die Demenz verschärft diesen natürlichen Prozess auf einschneidende Weise. Diese Erfahrung macht der Ich-Erzähler David in dem wunderbaren Buch „Der vergessliche Riese“ von David Wagner.

Davids Vater, zweifach verwitwet, leidet an Demenz und findet sich in seinem Haus bei Bonn alleine nicht mehr zurecht, er braucht Hilfe, um den Alltag zu bewältigen. Bald wird er in ein Pflegeheim müssen. David und seine Geschwister, die über die Republik verstreut in Berlin, Hamburg und München leben, wechseln sich ab mit ihren Besuchen beim Vater; immer wieder neue, meist polnische Betreuerinnen organisieren sein alltägliches Leben.

David, den der Vater konsequent mit „Freund“ anredet, denn er kann sich den Namen des Sohnes nicht mehr merken, weiß, dass sein Vater mehr und mehr entschwindet. Der Riese von früher wankt und schrumpft: „Früher, im seltsamen Früher, wo liegt dieses geheimnisvolle Land, wusste er alles. Er war der Riese, auf den ich klettern konnte, er war der Größte.“

Aber in diesem Verschwinden finden Vater und Sohn zu einer neuen, sanften Verbundenheit. Sie, die sich über zwei Jahrzehnte lang wenig zu sagen, sich entfremdet hatten, erleben eine ungekannte Nähe. Sie sind nun gerne zusammen, genießen die gemeinsamen Ausflugsfahrten mit dem Auto – oft genug zu Beerdigungen, der Vater hat viele Geschwister. Manchmal staunt der Sohn, wie viel und wie klar der Vater weiter Zurückliegendes erinnert. Diese Stellen im Buch geraten zu kleinen historischen Ausflügen in die NS-Zeit und in die alte Bundesrepublik.

Aber die Krankheit schreitet unaufhaltsam voran, und es kommt der Moment, wo David und seine Schwestern die Entscheidung fällen müssen, den Vater in ein Heim zu geben. Er nimmt das erstaunlich gelassen hin, auch wenn ihn seine Kinder bis zum Schluss im Unklaren lassen und entmündigen, denn sie organisieren den Umzug hinter seinem Rücken. Doch einen besseren Plan haben sie nicht. Vielleicht gibt es den auch nicht.

„Der vergessliche Riese“ ist erkennbar ein autobiographisch grundierter Text, aber sein Autor David Wagner betont: Das eigene Leben diene ihm zwar als „Steinbruch“ für die Literatur, letztlich sei die Geschichte aber doch Fiktion. David Wagner lotet in ihr das Spannungsfeld von Erinnern und Vergessen aus. Und er nimmt dieser furchtbaren Demenz-Krankheit ein wenig den Schrecken, indem er unaufgeregt und leise, ganz ohne Drama und Pathos von Heimkehr und Abschied, von kostbaren Augenblicken des Glücks innerhalb eines großen Unglücks erzählt.

Ein Buch mit vielen traurigen, vielen komischen und nicht zuletzt vielen warmherzigen, ja, zärtlichen Momenten.

Vorgestellt von Monika Rettig, Programmchefin der Erfurter Herbstlese

 

 

David Wagner, „Der vergessliche Riese“
Rowohlt Verlag, 269 Seiten, Hardcover
ISBN 978-3-498-07385-5 
22,00 Euro

 

Das Buch kann unter diesem Link bei unserem langjährigen
Partner Hugendubel erworben werden.

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