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Erfurter Herbstlese
Es lebe die Erfurter Herbstlese!
April 20 2020

Vorgestellt von Dirk Löhr, Vorsitzender des Herbstlese-Vereins

Erich Kästner „Der 35. Mai“

Erich Kästner „Der 35. Mai“
Erich Kästner „Der 35. Mai“

Was tun, wenn man nicht verreisen kann? Für Menschen mit einem Stück DDR in ihrer Biografie ist das keine ungewöhnliche Frage. Die Antworten liegen seit Jahrzehnten auf der Hand. Entweder, man begnügt sich mit der heimischen Scholle und den Annehmlichkeiten der Datsche darauf. Zweite Wahl, aber nur für nervenstarke Gemüter geeignet, ist der Gang in die Illegalität. Wie die „Transis“ damals, die mit einem Transfervisum für ein paar Tage in der Weite der Sowjetunion verschwanden. Um sich dort, immer auf der Hut vor den wachsamen Augen der Miliz, im Tien Schan, dem Altaigebirge oder sogar ganz weit hinten, auf der sagenumwobenen Halbinsel Kamtschatka, in der unberührten Natur zu ergehen.

Weniger desperate Zeitgenossen wie der Autor dieser Zeilen reisten indes auf den Flügeln der Fantasie. Mit dem heimischen Sofa als Homebase kostete das fast nichts, es sei denn, der Leser geriet an Hesses „Steppenwolf“. Dann kostete es unter Umständen den Verstand, falls Einlass dort begehrt wurde, wo er nur Verrückten zustand. Aber das ist eine andere Geschichte.

Um die es hier geht, spielt an einem Tag im Mai, an einem 35., um genau zu sein. Aufgeschrieben hat sie Erich Kästner. Der damit en passant bewies, dass die stärkste aller Kräfte dieser Welt noch immer die Vorstellungskraft ist.

Doch der Reihe nach. An besagtem 35. Mai verbringt der jugendliche Held Konrad wie immer Donnerstag den Nachmittag bei seinem Onkel, dem bemerkenswerten Apotheker Dr. Ringelhuth. Leider ist die Freude zwischen ihm und seinem Neffen getrübt, muss Konrad doch – weil er gut rechnen kann – am nächsten Tag einen Aufsatz über die Südsee vorlegen. Zu Glück schließen die beiden die Bekanntschaft des Rollschuh laufenden Zirkuspferdes Negro Kaballo, der ihnen einen entscheidenden Tipp gibt: Ab durch den Wandschrank des Onkels, dann ist die Südsee nur noch zwei Stunden forschen Schrittes entfernt.

Doch bis es die Südsee erreicht, muss das Trio, der sprechende Rappen hat sich der Tour couragiert angeschlossen, erst noch durch einige andere merkwürdige Länder hindurch. Da wäre das Schlaraffenland, wo denen Ausweisung droht, die nicht dick genug sind. Oder Elektropolis, wo sich die Gehsteige bewegen und die Zeitung am Himmel erscheint; die Verkehrte Welt, in der die Kinder das Sagen haben, nicht zu vergessen.

Endlich sind sie am Ziel. In der Südsee treffen Konrad und der Apotheker das karierte Mädchen Petersilie und wenig später auch ihren Vater. Häuptling Rabenaas, auch „Schnelle Post“ genannt, rettet sie im Dschungel vor einem bösartigen Walfisch, in dem er den Koloss mit heißen Bratäpfeln aus seinem Taschenmesser beschießt. Das muss gefeiert werden! Schließlich verabschiedet sich die Prinzessin; sie hat noch einen Termin bei der Diamantenwaschfrau auf Bali.

Doch wie kommen alle wieder heil aus der Südsee nach Deutschland zurück? Wird Konrad seinen Aufsatz noch schaffen? Das soll hier nicht verraten werden. Wer – aus welchen unerfindlichen Gründen auch immer – diese wunderbare Geschichte nicht lesen möchte, kann inzwischen auf einen Comic zurückgreifen. Allerdinges: Auch die Sprechblasen wollen studiert werden.

Bleibt nur ein Geheimnis. Warum ist „Der 35. Mai“ nicht so berühmt wie die anderen Klassiker aus Kästners Feder? Konrad und sein Onkel, das sei hier versichert, können es locker aufnehmen mit all diesen doppelten Lottchen, mit Emil Tischbein, Mäxchen Pichelsteiner oder Professor Jokus von Pokus, ja sogar mit Martin Thaler und Justus Bökh. Wer es nicht glaubt, kann es gern selbst nachlesen.

Vorgestellt von Dirk Löhr, Vorsitzender des Herbstlese-Vereins

 

Erich Kästner „Der 35. Mai“,
Atrium, 160 Seiten, Hardcover
ISBN: 978-3855356027,
14,00 Euro

Als Comic mit Illustrationen von Isabel Kreitz
Atrium, 112 Seiten, Hardcover
ISBN: 978-3855356249,
16,00 Euro

Die Bücher können bei unserem langjährigen
Partner Hugendubel erworben werden.

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