Vorgestellt von Monika Rettig, Programmleiterin der Erfurter Herbstlese
Lutz Seiler „Stern 111"

Lutz Seilers neuer Roman „Stern 111“ führt mitten hinein in die Zeit der grundstürzenden Erfahrungen, die all‘ die Menschen machten, die 1989/1990 in der DDR lebten.
Carl Bischoff ist Mitte Zwanzig und ein abgebrochener Student, als er am 10. November 1989 ein Telegramm seiner Eltern erhält, in dem sie ihn dringend bitten nach Hause zu kommen, nach Gera, sie bräuchten seine Hilfe. Er soll sie zum Grenzübergang Herleshausen fahren, denn sie, die „unwahrscheinlichsten Flüchtlinge“, die man sich vorstellen kann, sind entschlossen, ihr bisheriges, so geordnetes und überschaubares Leben hinter sich zu lassen und sich in das Abenteuer Westen zu stürzen. Damit beginnen zwei Handlungsstränge, die beide von Aufbruch und radikaler Veränderung, aber auch von Gebundenheit erzählen. Denn nicht nur die Eltern, sondern auch Carl zieht es weg aus der Heimatstadt Gera, obwohl ihm dort als „Nachhut“ Haus und Auto der Eltern anvertraut wurden. Er fährt mit dem Shiguli seines Vaters nach Berlin und schließt sich dort dem „Rudel“ an, einem Teil der Hausbesetzerszene in Mitte und Prenzlauer Berg.
Es ist eine historische Lücke, die sich auftut zwischen untergehendem Staatssozialismus und noch nicht angekommenen Kapitalismus und im Ostteil Berlins einen Freiraum für Künstler und Lebenskünstler entstehen lässt, in dem alles möglich scheint. Carl lebt wie die anderen des Rudels ohne Mietvertrag in verfallenen Häusern, mit dem Shiguli als Schwarz Taxi verdient er ein bisschen Geld, und er, der gelernte Maurer, hilft tatkräftig mit in der Assel. Jener legendären Untergrund-Kneipe, in der Lutz Seiler selbst mehrere Jahre kellnerte. Carls eigentlicher Traum aber ist es, Dichter zu werden, in ein „poetisches Dasein“ vorzustoßen. Das Umfeld, in dem er jetzt lebt, scheint günstig dafür. Er lernt andere Künstler kennen, hofft auf erste Möglichkeiten der Publikation.
Lutz Seiler schildert diese verrückte und beflügelnde Zeit ungemein detailreich, sinnlich und authentisch, ohne sie zu verklären. Denn er weiß um ihr Ende: Dieses Jahr der Utopie und Anarchie ist schnell vorbei. Die Hausbesitzer machen ihre Rechte geltend, Touristen entdecken den Reiz der „Szene“-Kneipen, die Kommerzialisierung bricht sich Bahn. So vergänglich diese Phase des Übergangs mit ihren Visionen auch war, Lutz Seiler hat sie mit Vehemenz und großer poetischer Kraft in die Literaturgeschichte eingeschrieben.
Parallel zu Carls Berliner Erfahrungen erzählt Seiler die Geschichte von Inge und Walter Bischoff, den Eltern. Wenn man deren Erlebnisse in der terra incognita namens „Westen“ in der meisterhaften Schilderung von Lutz Seiler gelesen hat, versteht man ganz genau, warum sich dreißig Jahre nach dem Ende der deutschen Teilung Ost-und Westdeutsche noch immer Rätsel aufgeben und die Gräben längst nicht zugeschüttet sind.
Torsten Unger (MDR) nennt Lutz Seilers „Stern 111“ im Gespräch mit dem Autor einen magischen Roman. Er hat unbedingt recht. Lutz Seilers Sprachmacht, seine Poesie und seine analytische Genauigkeit, nicht zuletzt auch sein Humor machen das Buch zu einem großen Lesevergnügen.
Das Video mit Lutz Seiler ist am 29. Dezember ab 19.30 Uhr für 24 Stunden auf Caroline TV zu sehen, dem YouTube Kanal der Erfurter Herbstlese.
Vorgestellt von Monika Rettig, Programmleiterin der Erfurter Herbstlese
Lutz Seiler „Stern 111“
Suhrkamp Verlag
ISBN: 9783518429259
24,00 Euro
Das Buch kann unter diesem Link bei unserem langjährigen
Partner Hugendubel erworben werden.