Vorgestellt von Benjamin Sippel, Historiker
Peter Parsons „Die Stadt des Scharfnasenfisches“

Sie gruben sich durch Berge von Müll und stöberten mit Vorliebe in den Hinterlassenschaften anderer Leute: Die Rede ist hier von zwei britischen Gentlemen, Bernard Pyne Grenfell und Arthur Surridge Hunt, die um 1900 am Rande einer ägyptischen Kleinstadt den Fund ihres Lebens machten. Denn die Hügel, die sich vor besagter Stadt auftürmten, entpuppten sich als antike Mülldeponie, in der sich über die Jahrtausende insbesondere Schriftstücke aus Papyrus konservierten.
Was den ehemaligen Bewohnern bloß Unrat war, stellt heute einen der bedeutendsten Schätze zur Erforschung des Altertums dar. Peter Parsons, der über Jahrzehnte als Papyrologe an der Universität Oxford geforscht hat, gibt einen kurzweiligen, zugleich informativen und zum Nachdenken anregenden Einblick in den Alltag der Bewohner dieser Stadt, die heute el-Behnesa heißt und damals Oxyrhynchos hieß, was in griechischer Sprache „Die Stadt des Scharfnasenfisches“ bedeutet.
Zu Beginn erzählt Parsons die Geschichte von der Entdeckung der Papyri und den ganz praktischen Schwierigkeiten, die sich bei ihrer Ausgrabung, Konservierung, und Entzifferung stellten. Eine Buchstabenfolge wie vielleicht „ETWABEZÜKLIHDERSCRIPTUR_ONTINUA“ ließe sich als „etwa bezüglich der Scriptutra Cotinua“ dechiffrieren. Dazu kommen in den Texten häufig Lücken, Schreib- und Grammatikfehler vor. Anschließend eröffnet der Autor einen weitschweifenden Blick auf den Alltag vor zweitausend Jahren, der von Marktgetümmel, Steuersachen und Familienfreuden bis hin zu Gottesfurcht, Kaiserherrschaft und Naturgewalten reicht.
Parsons schreibt hier für ein fachfremdes Publikum, das seine Faszination für die Antike teilt. Meisterhaft gelingt ihm dies durch die zahllosen gut gewählten Zitate aus Originaltexten. Manches wirkt dabei seltsam vertraut: die herzliche Einladung zum Kindergeburtstag, der verzweifelte Liebesbrief, die Banküberweisungen für einen größeren Einkauf oder der Student im fernen Alexandria, der von seinen Eltern ein Fresspaket zugesandt bekommt.
An anderer Stelle zeigt sich die alte Welt hingegen völlig fremd und entrückt: Wie kollte man einen Brief versenden, wenn es kein öffentliches Postsystem und keine Hausadressen gab? Wie zählte man sein Alter, wenn mit jedem neuen Kaiser eine neue Zeitrechnung begann? Wie behielt eine Stadtverwaltung den Überblick, wenn alle Informationen auf schier endlos langen Schriftrollen notiert waren? Und wann warfen eigentlich die ersten Christen ihre Bibeltexte auf den Müll? Parsons widmet sich solchen Detailfragen mit viel Geduld und einem ausgesprochenen Talent für anschauliche Erklärungen.
Thematisch weitgreifend und höchst unterhaltsam geschrieben, ist das Buch auf fachliche Genauigkeit bedacht und vermeidet jede sinnentstellende Verkürzung. Dem geneigten Leser stehen sogar Quellen- und Literaturangaben zur weitergehenden Befassung zur Verfügung. Parsons bietet damit ein Werk, das den Standard der populärwissenschaftlichen Literatur bei Weitem übertrifft.
Vorgestellt von Benjamin Sippel, Historiker
Peter Parsons „Die Stadt des Scharfnasenfisches. Alltagsleben im antiken Ägypten“
C. Bertelsmann, 384 Seiten, Hardcover
ISBN 978-3570004593
20,00 Euro