Vorgestellt von Kathleen Kröger, Mitarbeiterin im Kultur: Haus Dacheröden
Raymond Quenau „Stilübungen“

Wie oft schießt einem passionierten Leser nach einer eher mittelmäßigen Lektüre wohl der Gedanke durch den Kopf „Diesen Wälzer hätte man auch auf einer halben Seite erzählen können“. Vor allem, wenn es sich um einen Roman handelt, von dem sich der Leser durch Sympathie mit den vorherigen Werken des Autors einfach mehr erwartet hatte, kommt es oft zu Fragen, warum die Geschichte ausgerechnet auf diese Weise erzählt wurde, und nicht anders.
Raymond Quenaus „Stilübungen“ gehen genau diesem Dilemma der Literatur auf hintergründige, fast schon spielerische Art auf den Grund. So bringt der mit „Zazie in der Metro“ bekannt gewordene Autor die Geschichte seines Buches tatsächlich auf eine halbe Seite: In einem Pariser Bus der Linie S beschimpft ein junger Mann mit Hut einen älteren Herrn, setzt sich dann auf einen freien Platz und taucht zwei Stunden später an der Gare Saint-Lazare wieder auf, wo einer ihm sagt, sein Mantel habe einen Knopf zu wenig.
Diese recht banale Handlung wäre es im Grunde schon gewesen, wären da nicht die mehr als 100 nachfolgenden Kapitel, in denen diese Geschichte in den verschiedensten Stilen neu erzählt wird. Nach den bloßen „Angaben“ über den Verlauf der Handlung lässt der französische Schriftsteller seine Protagonisten auf 167 Seiten immer wieder auf andere Arten Bus fahren, sich wieder treffen und über einen Mantelknopf sprechen. Was so als „Verdopplung“ funktioniert: „Gegen Mitte des Tages und am Mittag befand ich mich und stieg ich auf die Plattform und die hintere Terrasse eines überfüllten und fast besetzten Autobusses und Gemeinschaftstransportfahrzeuges der Linie S und der von der Contrescarpe nach Champerret fährt“ wird so später auch zum Ausruf: „Sieh an! Mittag! Zeit, den Autobus zu nehmen! Was ne Menschenmenge“ und lässt auch Gattungen wie Ode, Sonett, Haiku oder Komödie nicht aus.
Auf die Spitze treibt er es in den Kapiteln, in denen er die Geschichte nach Buchstabengruppen sortiert, alle Zeitformen durchexerziert und nicht nur einen Ausflug in die Welt der Anglizismen oder des Javanischen wagt, sondern sogar noch eine botanische Erzählweise findet.
So schafft es Raymond Queneau, zahlreiche literarische Spielarten auszutesten, und zeigt die Bandbreite, was Sprache alles kann, welche Wirkungen sie anhand kleiner Veränderungen erzeugen kann und was auf einer halben Buchseite eben möglich ist. Die „Stilübungen“ sind aber nicht nur für Sprach- und Literaturwissenschaftler interessant, sondern bieten auch jedem sprachinteressierten Leser eine unterhaltsame Lektüre mit Witz.
Seit 2016 gibt es auch eine erweiterte Ausgabe. Der aus dem Arte-Format „Karambolage“ bekannte Linguist Hinrich Schmidt-Henkel hat die Texte Queneaus gemeinsam mit Frank Heibert neu übersetzt und dem Werk einige neue Kapitel hinzugefügt.
Vorgestellt von Kathleen Kröger, Freie Mitarbeiterin im Kultur: Haus Dacheröden
Erweiterte Ausgabe
Suhrkamp, 224 Seiten, Gebunden
ISBN 978-3518224953
22,00 Euro
Das Buch kann unter diesem Link bei unserem langjährigen
Partner Hugendubel erworben werden.